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ERKENNTNISSE DER DATENANALYSE

Kein gemeinsames Bild von der Zukunft: Die für „Next Germany“ ausgewerteten Studien dokumentieren: Während die Deutschen die Entwicklung in ihrem Land noch bis in die 1980er-Jahre durchaus als positiv wahrnahmen, begann sich das Blatt in den 1990er-Jahren und spätestens zur Jahrtausendwende zu drehen. Die Gesamtsituation wird inzwischen negativ wahrgenommen. In Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung zeigen sich die Deutschen resigniert. Der überwiegende Teil der Befragten ist mit der heutigen Situation sehr unzufrieden – und erwartet wenig Besserung für die Zukunft. Es fehlt ein (gemeinsames) positives Zukunftsbild. Die Daten zeigen: Weit mehr als drei Viertel der Befragten sehen keinen anderen Ausweg als einen Paradigmenwechsel.

Gespaltenes Deutschland – zwischen „Ich“ und „Wir“

Die Datenauswertung für “Next Germany” zeichnet ein deutliches Bild: Die deutsche Gesellschaft ist in zwei Gruppen zerfallen – der empirische Beleg für ein gespaltenes Land. Beide Gruppen sind Zukunftspessimisten. Eine davon präferiert am Gemeinwohl orientierte “Wir-Werte”, 90% von ihnen sehen keine Hoffnung in der Zukunft. Die andere Gruppe legt ihren Fokus auf individuelle “Ich-Werte”, 56% von ihnen blicken pessimistisch in die Zukunft. Während in der Gruppe mit Fokus auf eine „starke Gemeinschaft“ Ältere (56 bis 65 Jahre) und Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen (Hauptschule) leicht überrepräsentiert sind, sind es in der Gruppe mit dem Fokus auf ein „starkes Individuum“ Jüngere (unter 35 Jahre) und Besserverdienende (über 3.500 Euro Haushaltsnettoeinkommen). Diese Verteilung anhand demografischer Variablen greift als Erklärungsmuster aber zu kurz – die Durchmischung ist schlicht zu hoch.

Beide Gruppen schätzen die gegenwärtige Situation vollkommen unterschiedlich ein. Der Effekt dieser Spaltung ist laut Studie massiv: „In der Gesellschaft entsteht eine Pattsituation mit wenig Spielraum zum Handeln. Was den einen als Lösung erscheint – beherztes Anpacken auf individueller Ebene –, sehen die anderen potenziell als vollkommen falschen Weg an.“ Die Idealbilder der „Wir-Fokussierten” gehen in Richtung Kooperation. Die Idealbilder der „Ich-Fokussierten” gruppieren sich um individuelle Leistung und Wettbewerb.

Die nüchterne Erkenntnis: Die Deutschen verstehen einander nicht mehr. Gleiche Begriffe erzeugen diametral verschiedene Vorstellungen. Obwohl die Entwicklung eigentlich für beide Gesellschaftsgruppen sehr ähnlich ist, wird sie unterschiedlich wahrgenommen. Keine guten Voraussetzungen für ein gemeinsames Zukunftsbild.

 

Auf dem Weg zu einem neuen „Wir“

Die gute Nachricht der Autoren: Für die Zukunft zeichnet sich auch die Perspektive eines “progressiven Wir” ab. Dieses besteht jedoch nicht darin, die verloren gegangene Mitte des gesellschaftlichen Konsenses wieder aufzubauen, sondern ein neues Ziel zu avisieren: neue, progressive Formen des “Wir”. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden vier aufeinanderfolgende Transformationsphasen identifiziert, die es als Gesellschaft zu durchlaufen gilt:

ZeitphaseWerteWerte-FokusWerte-Motto
Ferne VergangenheitKonservative Wir-VorstellungenGemeinschaft, Gruppe und Familie, klar definierte AufgabenSolidarität über Institutionen leben.
Nähere Vergangenheit und GegenwartKonservative Ich-Vorstellungen individuelle Leistung, ermöglicht durch klare institutionell  RegelungenMit Leistung vom Tellerwäscher zum Millionär.
Gegenwart und nähere ZukunftProgressive Ich-Ideenindividuelle GestaltungsmöglichkeitenJeder ist seines Glückes Schmied.
Fernere ZukunftProgressive Wir-IdeenSelbstentfaltung mit gesellschaftlichem BezugDer übergeordnete Sinn bestimmt das Handeln.

Laut Studie ist es als Gesamtgesellschaft kaum möglich, eine „Entwicklungsstufe“ zu überspringen. Stattdessen ist die Gesellschaft gezwungen, von den Wertevorstellungen eines „konservativen Wir“ schrittweise den Weg über das “konservative Ich” und das „progressive Ich“ hin zum „progressiven Wir“ zu gehen. Das hat vielfache Konsequenzen, so die Studie:

  • Ein gemeinsamer Weg in die Zukunft ist nicht leicht. Die Menschen in Deutschland leben in Subwelten mit äußerst unterschiedlichen Werten. Die Polarisierung der Wertewelten ist sowohl in der Gesellschaft als auch am Arbeitsmarkt zu beobachten.
  • Diese Spaltung ist nicht nur ein Fakt, sondern wird auch sehr unterschiedlich bewertet: Menschen mit stark ich-zentrierten Werten erleben sich tendenziell als Gewinner, Menschen mit Wir-Vorstellungen eher als Verlierer. Sie sind größtenteils zutiefst resigniert. Jede angestrebte Veränderung muss das in Betracht ziehen. Eine stärker werdende Gewinner-Verlierer-Dynamik, breitflächige Resignation und die Bereitschaft zu Gewalt könnten zu Risiken für unsere Zukunft werden.
  • Eine gemeinsame Zukunftserwartung ist möglich: Im besten Fall steuern wir auf eine Welt mit mehr Selbstentfaltung, Sinnstiftung und Gestaltungsraum zu. Der Rahmen dafür würde im Gegensatz zu heute weit weniger von Institutionen gestaltet werden.
  • Der Weg in eine Welt mit mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung stellt beide Seiten, Wir-Befürworter wie Ich-Idealisten, vor Herausforderungen. „Neue intelligente Wirs“ können nicht ad hoc entwickelt werden. Die Logik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung läuft vielmehr etappenweise von konservativen Wir-Vorstellungen über konservative Ich-Vorstellungen und progressive Ich-Werte hin zu einer progressiven, gewissermaßen „individualistischen“ Wir-Kultur.

Auf diese Entwicklung hat das Zukunftsinstitut bereits 2015 in der Studie “Die neue Wir-Kultur” hingewiesen: “Unsere Untersuchungen dulden keinen Zweifel: (Die neuen) Wirs sind ein hochrelevanter, breitenwirksamer gesellschaftlicher Trend, der sich auf alle Teilbereiche der Gesellschaft auszuwirken beginnt.”

In Netzwerken verliert hierarchische Macht an Bedeutung – zugunsten von Kooperation und Selbstorganisation.

Vor diesem Hintergrund braucht es in Deutschland nicht nur neue Ideen, sondern auch einen echten Mindshift. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist das Wahr- und Ernstnehmen der kulturellen Kluft, die durch unsere Gesellschaft geht.

Die Typologie des “progressiven Wir”

Für Menschen mit einem “progressiven Wir” Mindset bemisst sich der Wert einer jeden Tätigkeit an ihrem Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft. Dabei erwarten sie von jeder und jedem Einzelnen ein hohes Maß an eigenem Gestaltungswillen. Es ist aus ihrer Sicht wichtig, familiäre Verpflichtungen, individuelle Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Mitgestaltung zu vereinbaren. Das Ziel einer Gesellschaft ist für sie, gemeinsam gute Bedingungen für alle zu schaffen. Gemeinnützige Tätigkeiten erscheinen ihnen in diesem Zusammenhang oftmals sinnvoller als eine Arbeit, die vor allem aus monetären Gründen ausgeübt wird. Sie sind nicht bereit, für materielle Sicherheit ihre Prinzipien zu verraten. Vom Staat erwarten sie, dass er allen Bürgern ein lebenswertes Auskommen garantiert, unabhängig davon, welches Einkommen diese am Arbeitsmarkt erzielen.

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